Krankheit Der Kampf um Victoria

Erst fehlte die Diagnose, dann die Therapie. Trotz jahrelangem Kampf konnten die Eltern nur zusehen, wie sich Victorias schwere Muskelkrankheit verschlimmerte. Dann kam die Wende.

SMA ist eine seltene, fortschreitende neuromuskuläre Erkrankung, die sich durch ein breites Spektrum an Ausprägungen bei Kindern und Erwachsenen auszeichnet.

Im Spital gratulierte man Nicole und Markus Gusset noch zur gesunden Tochter. Nach unauffälliger Schwangerschaft hatte Nicole 2010 ihr erstes Kind zur Welt gebracht. Victoria entwickelte sich prächtig, war nach wenigen Monaten sprachlich sogar schon weit voraus, nur mit den Bewegungen haperte es. «Als Victoria ein Jahr alt war, hatten wir das Gefühl, dass sie motorisch nicht so weit war wie andere Babys im selben Alter. Wir müssten uns allerdings keine Sorgen machen, hiess beim Kinderarzt, das sei nur eine Eigenheit des Wachstums. Victoria würde sich motorisch schon noch entwickeln», so Nicole Gusset.

«Die Worte überzeugten uns nicht. Wir gingen mit Victoria zu einer erfahrenen Physiotherapeutin, um unterstützende Übungen zu machen. Victoria musste sich rollen, Dinge über dem Kopf greifen. Die Muskulatur sollte gestärkt werden, doch warum Victoria motorisch nicht in die Spur kam, wusste niemand.»

Abermals beschwichtigte der Kinderarzt und meinte, Victoria habe ganz bestimmt keine dieser schlimmen seltenen Krankheiten, ihr gehe es zu gut. «Das war uns zu wenig.»

Nicole Gusset begann zu recherchieren. «Die Symptome von Victoria passten eigentlich nur zur Spinalen Muskelatrophie SMA. Das ist eine Motoneuron-Erkrankung, also eine Erkrankung bestimmter Nervenzellen im Rückenmark. Normalerweise leiten diese Nerven vom Hirn kommende Impulse an die Muskulatur weiter, die für die willkürlichen Bewegungen wie Krabbeln, Laufen und Kopfkontrolle nötig sind. Werden die Impulse nicht weitergeleitet, verkümmern die Muskeln und sterben letztlich ab. Dieses Wissen musste ich mir aus dem Internet holen. Keiner der Ärzte und Neurologen konnte uns helfen. Frustrierend war, dass wir nicht einmal in die Abklärungen einbezogen wurden.»

Nicole Gusset suchte weiter. «Ich fand eine deutsche Selbsthilfegruppe von SMA-Betroffenen. Ich schilderte der Expertin, selbst Mutter zweier Kinder mit SMA, meine Beobachtungen bei Victoria und bekam auf diesem Weg die erste wirklich brauchbare Auskunft. In der Schweiz dauerte es noch eine Weile, bis die Ärzte endlich einen Bluttest verordneten. In ein paar Tagen würden die Ergebnisse vorliegen, und wir vereinbarten einen persönlichen Besprechungstermin am kommenden Montag. Trotzdem rief man uns bereits am Freitag an, um uns das Ergebnis mitzuteilen: ‹Victoria hat SMA.› In diesem Moment brach für uns eine Welt zusammen. Niemand möchte hören, dass sein Kind mit einer seltenen, unheilbaren Krankheit leben muss. Wir waren in einer Ausnahmesituation und wurden komplett alleingelassen. So eine Diagnose teilt man doch nicht am Telefon mit, notabene drei Tage vor dem vereinbarten persönlichen Termin. Ich sass regungslos da, fühlte keinen Boden mehr unter den Füssen, wollte die Zeit zurückspulen, konnte es nicht wahrhaben. Damals wusste man noch so wenig über diese Krankheit. Das Bild, das in der Literatur gezeichnet wurde, war hoffnungslos.»

Heute haben wir Medikamente, die die Krankheit stabilisieren. Das gibt uns eine Zukunftsperspektive.

Am Montag gingen Gussets zum Arzt. «Mein Mann fragte, wie lange Victoria noch zu leben hätte. Dann sagte er: ‹Ein paar Monate im besten Fall. Nehmt sie nach Hause und geniesst die Zeit.› Da merkte ich, dass der Arzt von SMA weniger wusste als ich.»

Ein Medikament zur Behandlung von SMA gab es damals noch nicht. Ausser Physiotherapie und Ergotherapie zur Stärkung der noch bestehenden Muskulatur konnte man nichts tun. «Wir hatten keinerlei Erfahrung im Umgang mit Behinderungen, wir wussten nicht, was kommt. Wie lebt man mit einem SMA-Kind? Uns war klar, dass Victoria einen Rollstuhl braucht. Ich fragte mich aber, ob sie Freundinnen haben wird, wie sie ihren Platz in der Gesellschaft findet, ob sie glücklich und zufrieden werden kann. Welche Ausbildung sie machen und welchen Beruf sie ausüben kann», sagt Nicole Gusset. Der Austausch mit einer betroffenen Familie in der Schweiz sei ganz wichtig gewesen. «Ich sah dort, dass auch Familien mit SMA-Kindern ein glückliches Leben führen können. So bekamen wir eine Perspektive.»

Als studierte Biologin konnte Nicole Gusset mit den wissenschaftlichen Texten im Internet etwas anfangen, verstand deren Inhalt und teilte die Informationen mit anderen Interessierten. «Das war der Beginn der schweizerischen Patientenorganisation SMA Schweiz, die ich aufgebaut habe und der ich als Präsidentin vorstehe. Ich befasste mich auch mit der Forschung und der Entwicklung im In- und Ausland und versuchte, Victoria in die Versuchsphase eines neuen Medikamentes in den USA zu bekommen, doch sie hatten bereits genügend Probanden. In Deutschland hingegen klappte es einige Jahre später. Nach ausführlichen Checks konnte Victoria an der Studie teilnehmen. Was für ein Meilenstein! Wir waren so glücklich, denn aus unserer Sicht hatten wir für Victoria einen Platz auf der rettenden Arche Noah gesichert. Obwohl wir natürlich nicht wussten, was zu erwarten war.»

Wie gross waren die Hoffnungen? «Wir erwarteten nicht, dass Victoria dank dem Medikament auf einmal gehen kann. Wir wünschten uns aber, dass sie ihre Arme gut gebrauchen und den Kopf besser kontrollieren kann. Wir waren positiv aufgeregt und uns bewusst, wie wichtig unsere Erfahrungen für die Forschung und für andere Betroffene sein würden. Per Lumbalpunktion wurde Victoria regelmässig das Medikament verabreicht. Wir hatten schon bald das Gefühl, dass sie tatsächlich den Wirkstoff bekam und nicht Teil der Placebo-Gruppe war. Es sind viele kleine Dinge, die eine grosse Wirkung haben. Victoria konnte den Kopf wieder anheben, wenn er nach vorne kippte. Sie konnte sich beim Malen weiter nach vorne lehnen, und ihre Bleistiftstriche waren auf einmal deutlicher und kräftiger als vorher. Sie ist dank der Behandlung unabhängiger geworden. Intellektuell war sie ja schon immer ganz stark.» Später wechselte Victoria auch noch in einen anderen Versuch.

Heute besucht Victoria die 8. Klasse der Sekundarschule. «Mathematik und Englisch sind meine Lieblingsfächer», sagt sie und doppelt, nach den Noten gefragt, ganz bescheiden nach: «6 und 5,5.»

Jeder, der mit SMA lebt, soll sein Leben so selbstbestimmt wie möglich gestalten können.

Nur gemeinsam sind wir stark

Information und Vertrauen. Nicole Gusset kümmert sich intensiv um die Anliegen von SMA-Betroffenen in der Schweiz und neu auch in Europa.

Sie sind Mutter einer Tochter mit SMA und haben die Patientenorganisation SMA Schweiz aufgebaut. War Frust der Auslöser?

Nein, Frust war es nicht. Es war Hoffnung. Ich sah, dass wir Eltern von Kindern mit Spinaler Muskelatrophie SMA nur dann eine starke Stimme sein können, wenn wir uns zusammenschlies­sen und eine Gemeinschaft bilden. Nur so können wir ganz viele Sachen zur Verbesserung der Lebensqualität unserer Kinder erreichen, damals zum Beispiel die Entwicklung von Medikamenten vorantreiben und für deren Verfügbarkeit kämpfen.

 

Wie sind Sie vorgegangen?

Ich selbst habe die Website kreiert, um jegliche Informationen, die ich bis anhin zusammengetragen habe, allen Betroffenen zugänglich zu machen. Dann kam die Knochenarbeit. Ich versuchte, alle Familien und Menschen, die in der Schweiz mit SMA leben oder von SMA betroffen sind, ausfindig zu machen. Ich habe sie teilweise auch persönlich angeschrieben und auf uns aufmerksam gemacht. Ich wollte eine Organisation aufbauen, die eine Stimme für alle SMA-Betroffenen ist.

 

Welche Opfer mussten Sie erbringen?

Keine. Ich entdeckte ehrlich gesagt eine Passion, von der ich vorher nichts gewusst hatte. Die Arbeit erfüllt mich. Sie ist extrem spannend und bereichernd. Natürlich investiere ich viel Zeit. Aber ich mache es ja freiwillig. Manchmal wäre es schön, wenn noch mehr Leute aktiv helfen würden, den Karren zu ziehen. Aber ich habe aufgehört, Erwartungen zu haben. Denn Erwartungen werden oft enttäuscht. Natürlich war der Tag der Diagnose bei unserer Tochter Victoria der schwärzeste Tag in meinem Leben, aber die Reise, die wir zusammen angetreten haben, hat mir so viele Möglichkeiten eröffnet, die mir vorher verborgen waren. Ich setze mich gerne für Patientinnen und Patienten ein. Mittlerweile bin ich auch Präsidentin und Direktorin von SMA Europe mit 26 Mitgliedsländern. Wir haben acht Angestellte, die ich führe. Über ganz Europa verstreut. Noch nicht alle Länder haben Zugang zu den Medikamenten. Hier muss SMA Europe kämpfen.

 

Wurden Sie von den Fachärzten unterstützt?

Der Aufbau des Netzwerkes zu den Fachärzten ging langsam. Sie mussten wohl auch erst erfahren, dass wir eine Organisation sind, der man vertrauen kann. Eine Organisation, die keine Eintagsfliege ist, bei der sich ein Engagement auch lohnt. Sie mussten erkennen, dass Patienten bei uns gut und nicht einseitig beraten werden. Heute haben wir ein richtig gutes Verhältnis zu den Fachärzten. Einige könnten uns bestimmt noch ein bisschen aktiver weiter­empfehlen.

 

SMA Schweiz ist mehr als eine Selbsthilfegruppe?

Oh ja! Wir gehen einen Schritt weiter. Unsere Grundpfeiler sind informieren, vernetzen, fordern. Wir haben zum Beispiel schon bei der Zulassung und Vergütung des ersten Medikamentes aktiv Druck ausgeübt, auf die Firma, auf die Bundesstellen und auf die Krankenkassen. Wir haben damals direkt kommuniziert, dass die SMA-Patienten das Medikament brauchen. Unser Argument war «Zeit ist Motoneuronen». Wenn wir warten, sterben die Motoneuronen der SMA-Patientinnen und -Patienten unwiederbringlich ab. Manchmal muss man auch mit der Faust auf den Tisch hauen und sagen: So, bis hier und nicht weiter. Da gab es auch TV-Auftritte, offene Briefe an den Bundesrat. Dazu braucht es eine Community im Hintergrund.

 

Mittlerweile ist die Plattform zum Wissens­zentrum für SMA-Betroffene in der Schweiz geworden. Was hat sich verändert?

Wir begannen hinter den Kulissen schon 2012 mit der Arbeit und gründeten 2016 den Verein. Wir sind mittlerweile viel besser vernetzt, konnten noch mehr Vertrauen schaffen. Alle wissen, dass wir anständige Arbeit leisten. Heute haben wir Medikamente, die die Krankheit stabilisieren. Das gibt uns eine Zukunftsperspektive. Jetzt geht es drum, praktische Verbesserungen im Alltag zu finden, die das Leben der SMA-Betroffenen erleichtern. Darum haben wir das Tüftler-Netzwerk Smart Innovations lanciert.

 

Erklären Sie!

Jeder von uns muss im Alltag so viel tüfteln, dass er sein Leben praktisch und einfacher gestalten kann. Diese Errungenschaften wollen wir der Community zugänglich machen. Vielleicht kommt jemand auf die Idee, etwas weiterzuentwickeln und zu verbessern. Wie eine Schreibhilfe, einen Rollstuhl oder auch einen Schlitten. Die Plattform steht allen jederzeit zur Verfügung. Das Gemeinschaftsgefühl ist sehr wichtig. Wenn wir uns nicht sehen, kommunizieren wir über die Plattform. Später möchten wir auch Start-ups und Hochschulen begeistern, technisch anspruchsvollere Produkte mit uns zu entwickeln. Wenn ein bis zwei Ideen umgesetzt werden, wäre es ein Mega-Erfolg.

 

Welche Rolle spielt der Wissensaustausch über die Landesgrenzen hinaus?

Es ist sehr wichtig, dass wir international verknüpft sind. Wir sind nur 100 bis 150 Patientinnen und Patienten in der Schweiz und haben uns darum SMA Europe angeschlossen. Auch international sind wir nur gemeinsam stark. Die Zusammenarbeit funktioniert sehr gut, auch mit der Pharmaindustrie. Da können wir unsere Bedürfnisse direkt anbringen.

 

Was ist Ihr grösster Wunsch für alle ­SMA-Betroffenen?

Jeder, der mit SMA lebt, soll sein Leben so selbstbestimmt wie möglich gestalten können. Jeder soll seinen Weg so gehen, wie er das gerne möchte. Dafür arbeiten wir.

 

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Spinale Muskelatrophie SMA

SMA ist eine seltene, fortschreitende neuromuskuläre Erkrankung, die sich durch ein breites Spektrum an Ausprägungen bei Kindern und Erwachsenen auszeichnet. Sie bewirkt einen fortschreitenden Verlust von Motoneuronen und in der Folge Muskelschwund, was schliesslich zum Verlust der Atemmuskulatur und zum Tod führt. Die Symptome sind von Mensch zu Mensch verschieden. SMA kann alltägliche Aktivitäten wie Atmen, Essen, Umarmen, Greifen, Nicken, Sitzen und Gehen beeinträchtigen.

SMA Schweiz ist die Schweizerische Patientenorganisation für Spinale Muskelatrophie SMA. Sie setzt sich dafür ein, dass Therapien für Betroffene möglichst schnell vom Labor zum Patienten gelangen. Hierzu arbeitet SMA Schweiz national und international mit allen Interessensgruppen eng zusammen und vertritt die Anliegen der Betroffenen.

 

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Adresse: Biogen Switzerland AG

Neuhofstrasse 30, 6340 Baar

Text Oliver Knick, knick.media

Erstellt: 01.04.2024 07:00 Uhr

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